„Den Kunden“ schlechthin gab es noch nie, aber auch nicht so viele unterschiedliche Lebensstile und Werte wie heute. Die digitale Welt, längst selbstverständlicher Bestandteil des Alltagslebens, bietet eine neue Art von Freiheit. Diese Mischung ermöglicht, dass heutige Generationen Wünsche nach Selbstverwirklichung und einer eigenen Identität auch mehr ausleben können – damit aber auch für Unternehmen schwerer greifbar sind.
Alter oder Familienstand sind heute nicht mehr so wichtig – Unternehmen müssen vielmehr wissen, wie Konsumenten ticken, welchem Milieu sie sich zugehörig fühlen, wie ihre Beziehungen sind im Job und privat. Das entscheidet darüber, welche soziale Haut sie sich mit ihren Produkten zulegen. Marktforscher haben vor diesem Hintergrund komplexe Ansätze, die versuchen, die Sichtweisen und Werte der Konsumenten zu beschreiben und ihr Verhalten vorherzusagen.
Manfred Tautscher, Geschäftsführer des Heidelberger Marktforschungsinstituts Sinus, sieht in Simonne Jones, Multi-Instrumentalistin, Komponistin und Künstlerin, den Prototyp einer neuen, jungen kosmopolitischen Elite und digitalen Avantgarde. Jones, 26 Jahre alt, vermarktet nur sich selbst allein übers Internet. Die sehr unterschiedlichen Facetten ihrer Persönlichkeit bringt sie mühelos unter einen Hut. Jones studierte Kunst und biomedizinische Forschung und trat in Berlin bei der Rockoper „Peaches does herself“ auf.
Ferner baut sie Instrumente, hatte eine Solo-Kunstausstellung in Berlin, absolvierte die Red Bull Music Academy. Bei der Koproduktion „Jedermann“ von Hugo von Hoffmannstal des Hamburger Thalia Theaters mit den Salzburger Festspielen schrieb und spielte Jones die Musik. Außerdem protestierte sie in Berlin vor der russischen Botschaft gegen die Festnahme der Band Pussy Riots in Russland und klärte während eines Forschungsstipendiums afrikanische Jugendliche über die Aids-Problematik auf.
Mit diesem vollkommen individuellen Lebensstil ist Simonne Jones gewissermaßen ein „Kind“ des schnellen soziokulturellen Wandels der vergangenen Jahre, geprägt von Globalisierung und Digitalisierung, erklärt Tautscher. Diese Vertreter der digitalen Avantgarde sind selbstbewusst, haben eine ausgeprägte Bereitschaft, Grenzen zu überwinden und nur das zu tun, womit sie sich auch identifizieren.
Diese von Sinus „Expeditive“ genannten Konsumenten fokussieren sich intensiv auf ihren eigenen Lebensentwurf, müssen allerdings niemanden davon überzeugen. Im Vordergrund stehen Sinn und Selbstverwirklichung, weniger materieller Reichtum. „Die digitale Avantgarde ist mental und geografisch mobil, online und offline vernetzt und immer auf der Suche nach neuen Grenzen und neuen Lösungen“, so Tautscher. Sinus-Forscher sehen in den Expeditiven ein neues Leit-Milieu, an dem sich andere Milieus orientieren und von dem sie sich beeinflussen lassen.
Wahlmöglichkeiten und die Individualität nehmen überall zu. Aber der Geschäftsführer des GDI Gottlieb Duttweiler Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Dr. David Bosshart weist darauf hin, dass Menschen nur in ihrer Rolle als soziale Wesen individuell sein können – wir bleiben alle ein Stück weit von der Anerkennung durch andere abhängig. Social Media beispielsweise: „Die sozialen Medien leben davon, dass ich viel preisgebe, nur dann erhalte ich auch viel zurück“, so Bosshart in einem Interview. Deshalb erzeugen die vielen on- und offline-Möglichkeiten Konformitätsdruck, uns so darzustellen, wie wir glauben, dass andere es wollen. Das in der akademischen Psychologie seit langem bekannte Phänomen der sozialen Erwünschtheit ist nicht aus der Mode gekommen, es sind nur andere Inhalte und zusätzliche Kanäle im Spiel.
Beim Umgang mit Marken geht es nicht nur um Selbstdarstellung, sondern auch um Bindung, meint das Kölner Rheingold-Institut. Ausgangspunkt dieses Ansatzes sind die unterschiedlichen Bindungsformen der Menschen im Alltag. Mit jeder Bindungsform gehen ein typisches Verhalten und bestimmte Erwartungen einher: die Bindung an den Ehepartner ist anders als die an den Arbeitgeber, die Bindung an Freunde anders als die an den Fußballverein. Genauso verhält es sich mit unseren Bindungen an Marken.
Der Geschäftsführer des Rheingold-Instituts Stefan Grünewald postuliert für jede Bindungsform eine typische „Bindungssehnsucht“. So wünschen sich Sparkassen-Kunden, sich der Fürsorge der Bank überantworten zu können, dagegen möchten Kunden der Volks- und Raiffeisenbanken gerne Teil einer Gemeinschaft sein. Unser Bindungsverhalten ist außerdem, aus Sicht der Rheingold-Forscher, von einem zentralen Konflikt geprägt, in dem wir uns alle ständig befinden: den zwischen Anlehnung und Autonomie.
Alle suchen einerseits eine vertrauensvolle Bindung, andererseits möchte kaum jemand auf fremde Hilfe angewiesen sein und seine Autonomie infrage gestellt sehen. Das heißt für Unternehmen, dass treue Kunden nicht ständig an ihrer Treue zur Marke erinnert werden wollen.
Um unsere Beziehungen zu unseren Marken geht es auch im der Ansatz der GfK. Die Annahme: Beziehungen von Konsumenten zu Marken entwickeln sich analog zu zwischenmenschlichen Beziehungen, ändern sich also im Lauf der Zeit, enden manchmal auch. Ausschlaggebend für den Erfolg jeder Marke ist die emotionale Stärke der Beziehungen ihrer Fans zu ihr. So stellten die GfK-Forscher beispielsweise fest, dass so genannte Fast-Moving-Consumer-Marken mit starken Beziehungen ihren wertmäßigen Marktanteil in den Jahren zwischen 2010 und 2012 erhöhen und ihren Preispremium-Index steigern konnten. Marken mit schwachen Beziehungen gelang das nicht.
Märkten der Industrieländer haben viele Konsumenten den Luxus, sich das genau zu ihnen passende Produkt auszusuchen, das nicht nur funktioniert, sondern auch dabei hilft, sich auszudrücken. Um Status geht es dabei in den gesättigten Märkten der Industrieländer schon lange nicht mehr vorrangig, sagt der Geschäftsführer der GIM Gesellschaft für innovative Marktforschung Stephan Teuber.
Er hat aber auch beobachtet, dass das hierzulande übliche Understatement, also eine gewisse Zurückhaltung beim zur Schaustellen von Macht und Luxus zugunsten subtiler Signale von Kennerschaft und Distinktion, anderswo noch unbekannt ist. In aufstrebenden Märkten, oder „nachholenden Gesellschaften“, ist das Bedürfnis, Statussymbole zu zeigen, noch weitaus stärker als in saturierteren Märkten. Solche regionalen Unterschiede zu berücksichtigen, ist für weltweit tätige Unternehmen ein Muss, sagt Marktforscher Teuber.
Manfred Tautscher, Geschäftsführer des weltweit tätigen Sinus Instituts mit Sitz in Heidelberg über Sinus-Milieus
In dem Begriff Grundorientierung fassen wir die Werte und Einstellungen zusammen. Diese Grundorientierung bleibt in der Tendenz über den Lauf des Lebens bestehen. Bei den Sinus-Milieus reicht die Spanne von einer starken Traditionsverwurzelung bis hin zur Bereitschaft, Grenzen zu überwinden. Ohne aktiv in die Klassifikation einzugehen unterscheiden sich die Milieus auch nach ihrer sozialen Lage, sind aber vor allem Gesinnungscluster, die auf der Basis ähnlicher Grundüberzeugungen und Mentalitäten gebildet werden. Die Sinus-Milieus sind nicht nur ein Zielgruppenmodell, sondern bringen das aktuelle Wertesystem einer Gesellschaft auf den Punkt und zeigen gleichzeitig historische Entwicklungen wie zukünftige Trends auf.
Nicht alle, aber bestimmte Milieus beeinflussen sich gegenseitig. So sind die Expeditiven häufig Kinder von liberal-intellektuellen Familien. Darunter finden sich auch viele Künstler oder Kreative. Unter den Performern finden sich viele, die sich den Expeditiven nahe fühlen, die aber eher bereit sind sich anzupassen, weil sie stärker erfolgsorientiert sind, auch mehr interessiert an finanziellem Erfolg.
Dagegen haben Expeditive und die Sozialökologischen, die beide in etwa der mittleren bis oberen Mittelschicht angehören, inhaltlich gar nichts miteinander zu tun. Und auch Konservativ-Etablierte und die Expeditiven sind weit voneinander entfernt. Einige Milieus fungieren als Leitmilieus, so die Expeditiven und Performer für das Adaptiv-Pragmatische Milieu, oder das konservativ-etablierte Milieu für die bürgerliche Mitte. Das Wissen um diese Beziehungen erlaubt strategische Überlegungen und einen besseren Blick auf künftige Entwicklungen.
Es ist eine neue Form der Entgrenzung, die sich auch auf unsere Haltung zum Leben auswirkt. Ich bin immer und überall da. Alles, was sich wissen will, kann ich sofort erfahren. Ich kann jederzeit mit jedem reden. Diese Digitalisierung des Alltags macht uns dadurch autonomer und selbstbestimmter. Dies betrifft natürlich nicht nur die digitale Avantgarde, aber die Expeditiven gehen hier am weitesten, mit ihrer digitalen Selbstdarstellung und ihrer konsequenten Selbstverwirklichung
Der Artikel erschien im Original im Kundenmagazin "Donnerwetter" der Agenturgruppe Donner & Doria.
.
Diesen Beitrag weiterempfehlen: